Wohnen wir gerade der Entstehung einer neuen Capoeira-Kooperationskultur bei?
Es wird kuschelig diesen Herbst. Wenn in den Sporthallen die Heizungen runtergedreht werden, müssen die Menschen eben näher zusammenrutschen. Oder wie lässt sich die mittlerweile deutlich wahrnehmbare Annäherung der Capoeira-Gruppen im Rhein-Main-Gebiet sonst erklären?
Wer schon lange Capoeira trainiert, kann sich vielleicht noch erinnern, dass Monatsrodas in früherer Zeit gelegentlich eher als Einladung verstanden wurden, Mitgliedern anderer Capoeira-Gruppen eine Portion Backenfutter zu verpassen und damit die Deutungshoheit über das „überlegenste“ Capoeira für sich zu beanspruchen. Man war damals auf jeden Fall gut beraten, nicht allein auf einer Roda einer anderen Gruppe aufzutauchen, sondern immer mindestens im Pulk, und den eigenen Lehrer vorab in jedem Fall zu fragen, ob die Teilnahme an dieser Veranstaltung wirklich eine clevere Idee sei.
Seit geraumer Zeit deutet sich bereits eine Art Zeitenwende an. Mit der „Roda de Amigos“ etabliert Professor Fogo bereits seit 2015 in Darmstadt jedes Jahr eine explizit gruppenübergreifende Roda mit befreundeten Capoeiristas in freundschaftlicher Atmosphäre und ohne Abada als Signet der Gruppenzugehörigkeit (und somit auch „trennendes“ Symbol historischer, teils rivalisierender Capoeira-Erblinien) und hat damit dazu beigetragen, alte Rivalitäten ad acta zu legen. Inspiriert hat ihn die legendäre Roda „Vadeia Sampa“ in Sao Paulo. Zuschauer:innen sind von der hohen Qualität der präsentierten Capoeira, aber im gleichen Maße von der außergewöhnlichen Energie beeindruckt, die dort im perfekten Zusammenspiel von Jogadores, Bateria und Publikum entsteht.
Auch Professora Oncinha bietet seit vielen Jahren gruppenübergreifende Workshops und Rodas für Capoeira-Frauen an.
Zunächst kaum wahrnehmbar, änderte sich in den letzten Jahren im Rhein-Main-Gebiet zunehmend die Tonalität der Rodas. Je mehr die Kontakte zwischen Capoeiristas verschiedener Gruppen sich vertieften, desto weniger Bereitschaft blieb übrig, in der Roda ohne Rücksicht auf Verluste aufs Ganze zu gehen und beim Gegenüber mutwillig Verletzungen zu riskieren. Bald dominierte ehrliche Freude, wenn man in einer Roda auf unbekannte Gesichter traf.
Spätestens seit der Corona-Pandemie, als alle Gruppen das Schicksal teilten, auf einen Schlag viele Schüler:innen zu verlieren, wurde das Zusammenrutschen zum Garant für weiterhin gute Energie in der Roda. “In den Farben getrennt, in der Sache vereint“, sagt man über Fans von Fußballvereinen, die ähnliche politische Überzeugungen teilen. Ähnlich kann man beschreiben, was man nun „nach“ Corona zunehmend beobachten kann. Die etablierten Gruppenstrukturen strukturieren weiterhin unseren Trainingsalltag und bilden unsere erste soziale Anlaufstelle in der Funktion einer „Kernfamilie“ innerhalb der Capoeira-Community ab. In den Rodas aber ist Vielfalt eingezogen: eine Gruppe lädt ein, alle andere folgen dem Aufruf. Gemeinsam engagiert man sich für eine gemeinsame Mission: maximale (positive) Energie und Spaß am Zocken. Längst geht es bei den Rodas nicht mehr in erster Linie darum, als Einzelne:r das Gegenüber zu dominieren und in jedem Fall als Sieger:in vom Platz zu gehen. Gruppendynamik statt Individualleistung.
Die jüngste Generation Capoeira-Lehrer:innen geht nun nochmal einen Schritt weiter. Seit diesem Sommer gibt es unter dem lässigen Titel „Gude“ eine Roda, die mit Lagartixa (ACAPOEIRA) und Alongado (GCB) von zwei Capoeiristas unterschiedlicher Gruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet explizit gemeinsam ausgerichtet wird. Die Energie der zweiten Edition war großartig und der große Teilnehmerkreis gab der Idee hinter der Veranstaltung Recht (und trug natürlich auch dem erweiterten Netzwerk Rechnung). Entstanden ist die Roda aus dem wachsenden Bedürfnis nach einem offenen, gruppenübergreifenden Austausch und gemeinsamen Trainings. Und auch das Capoeira-Kinder-Event im Oktober in FFM-Rödelheim fühlte sich aber durch die explizite Einladung an ALLE Capoeira-Kinder aus dem Rhein-Main-Gebiet und ihre Lehrer:innen ebenfalls an wie eine Gemeinschaftsleistung, auch wenn es „nur“ städte- und nicht gruppenübergreifend organisiert war. Auch hier spürte man deutlich den gemeinsam getragenen Capoeira-Spirit und den großen Wunsch, gemeinsam in der Capoeira zu wachsen.
"Gude"-Roda in Frankfurt (Bild links und Mitte) & Kindertrainer:innen der Capoeira-Gruppen im Rhein-Main-Gebiet im Herbst 2022. Kooperation statt Konfrontation ;)
Werden wir Zeuge eines weiteren Schrittes traditioneller Capoeira-Gruppen in Richtung Bedeutungslosigkeit? Das ist zum jetzigen Zeitpunkt aus meiner Sicht noch nicht klar zu sagen. Klar ist: Die jüngere Capoeira-Generation hat in Bezug auf gruppenübergreifenden Austausch keine Berührungsängste. Und definitiv nicht mehr die gleiche starke Bindung an die eigene Gruppe wie noch die davor. Das liegt zum einen sicher an zunehmender globaler Vernetzung. Die eigenen Capoeira-Vorbilder gehören dadurch heute zum einen nicht mehr „automatisch“ auch der eigenen Gruppe an. Das erzeugt Offenheit. Zum anderen verlieren etablierte Gruppen durch die unerschöpfliche Masse an frei verfügbarem Capoeira-Content (und nun zusätzlich durch Zoom und co. durch die Möglichkeit, weltweit auch an Trainingseinheiten anderer Gruppen teilzunehmen), ihre Funktion als Orte, an denen Capoeira (exklusiv) gelehrt wird und die Deutungshoheit über das, was Capoeiristas dort lernen. Identitätsstiftung adé?
Ist das schlimm? Nicht unbedingt. Ich persönlich finde, dass das Zusammenwachsen der Strukturen durchaus auch viele Vorteile hat: Im Gemeinsamen entsteht mehr Energie. Und in einer offenen und positiven Atmosphäre entsteht für jede:n Einzelne:n mehr Raum zur Entfaltung. In der Zukunft werden sich Capoeira-Gruppen aber irgendwann der ehrlichen Diskussion stellen müssen, wofür sie zukünftig eigentlich (noch) da sein oder stehen wollen. Die Fähigkeit, alte Paradigmen zu überwinden und sich selbst auch in Teilen neu zu erfinden, kann auch eine Chance darstellen. Come back stronger! Ein ähnliches Phänomen beobachten wir übrigens in unserem Nachbarland Frankreich, wo alle Capoeira-Gruppen einen gemeinsamen, staatlich anerkannten Verband gegründet haben.
Und der logische nächste Schritt für uns hier? Natürlich ein gemeinsames Rhein-Main-Capoeira-Festival! Meinen Segen hättet Ihr 😉
Eure Emcima
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